[OLPC-DE] Artikel in der SonntagsZeitung

Bert Freudenberg bert at freudenbergs.de
Mo Apr 13 05:37:48 EDT 2009


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MIT EINEM KLICK AUS DEM ELEND

Wie das Projekt «One Laptop per Child» in einem südafrikanischen Slum  
Kindern neue Chancen eröffnet
Von Till Hein

Es ist ein Uhr mittags. Noch viel zu früh. Doch die ersten Kinder von  
Kliptown warten schon vor der grossen Baracke. Gleich öffnet  
Sozialarbeiter Thulani Madondo die Tür zum Kinder- und Jugendklub des  
Townships am Rande von Johannesburg.

45 000 Menschen leben hier. Im Slum gibt es kein fliessend Wasser,  
keinen Strom. 70 Prozent der Bewohner sind arbeitslos, 25 Prozent HIV- 
positiv. Vielen Kindern bleibt nur das Stehlen. «Die Laptops sind  
unsere grosse Hoffnung!», sagt Madondo und öffnet die Türen der Baracke.

Vor einem Jahr hat Madondos Jugendklub, das «Kliptown Youth Program»,  
100 Notebooks aus den USA bekommen. Kostenlos. Stolz zieht Andisiwe,  
ein quirliges Mädchen mit Pippi-Langstrumpf-Zöpfen, eines dieser weiss- 
grünen Geräte aus der zerknitterten Plastiktüte. «Toll, nicht wahr?»,  
sagt sie, und streicht mit der Hand zärtlich über die Tastatur.

Die Notebooks in Kliptown sind Teil einer grossen Mission: 2005  
gründete Nicholas Negroponte, Professor am renommierten MIT Media Lab  
in Boston, die Hilfsorganisation One-Laptop-Per-Child (OLPC). Sie  
verteilt Laptops an die ärmsten Kinder der Welt. Wenn man Negroponte  
glaubt, sind seine Computer Zaubermaschinen: Fachwissen,  
Lerntechniken, Teamfähigkeit, Selbstbewusstsein, Kreativität - all das  
sollen die Kinder dank ihnen selbstständig erwerben. Grosse Konzerne  
wie AMD, Ebay, Google oder Quanta Computer gehören zu Negropontes  
Partnern.

Der Fussboden im Jugendtreff ist abgewetzt, die Neonröhre an der Decke  
herausgebrochen. Auf einem Pult türmen sich Laptops, darunter ein  
Kabelsalat mit vielen Dreifachsteckern. Es ist die Ladestation für die  
Notebooks. Die Kinder benutzen ihre PCs auch zu Hause, und die Akkus  
reichen nur für ein paar Stunden.

In Madondos Jugendtreff sind die Laptops die Hauptattraktion. Man kann  
mit den weiss-grünen Kisten schreiben, rechnen, im Internet surfen,  
Musik herunterladen, Videos drehen, komponieren und zeichnen. «Die  
Kinder entdecken täglich weitere Möglichkeiten», schwärmt Madondo.

Der ehemalige Automechaniker ist heute Netzwerkexperte

Einige sitzen bereits vor den Bildschirmen. Amanda etwa, ein  
zierliches Mädchen mit grossen, neugierigen Augen, probiert gemeinsam  
mit ein paar Freundinnen ein Musikprogramm aus: Techno hämmert aus dem  
Lautsprecher, die Mädchen wippen im Takt. Andere Kinder rechnen: Auf  
einer Art Schachbrett sind auf dem Bildschirm Rechenaufgaben und  
Zahlen zu sehen. Wer bei «2 x 4» das Feld mit der «8» anklickt,  
bekommt einen Punkt. «Yeah!», ruft ein Junge begeistert. Wieder richtig!

Früher, als er noch gewöhnliche Hausaufgabenbetreuung anbot, hielt  
sich der Andrang in Grenzen, erzählt Madondo. Aber dank der Computer  
habe sich sein Treff super entwickelt: Statt knapp 100 hat der Klub  
inzwischen 251 Mitglieder - und die Notebooks werden langsam knapp.

Ob das Training mit den Laptops die Chancen der Kinder in  
Entwicklungsländern tatsächlich verbessert, sei bisher nie  
systematisch untersucht worden, sagt Madondo. Auch in Kliptown nicht.  
Für ihn steht der Erfolg des Notebook-Projekts dennoch ausser Frage:  
«Die Kinder sind selbstbewusster geworden, seit sie die Computer  
haben», erzählt er. «Und sie können sich länger konzentrieren.»  
Madondo glaubt, dass die Laptops helfen werden, den Lebensstandard im  
Slum zu verbessern. «Bisher ist mir zwar noch kein neuer Bill Gates  
unter den Jugendlichen aufgefallen», lächelt er. «Aber wir haben die  
Computer ja auch erst seit ein paar Monaten.»

In einer Ecke der Baracke hat es sich Andisiwe mit zwei Freunden  
gemütlich gemacht. Mit Kennerblick tippt sie ein paar Tasten an. Dann  
beginnen die Kinder zu singen. Es ist ein trauriges Lied auf Zulu,  
eine der Stammessprachen in Südafrika. Die Kinder versuchen das Lied  
aufzunehmen. Jetzt presst Andisiwe ein Ohr an den Lautsprecher und  
strahlt. Stolz reicht sie ihr Notebook herüber: Leise zwar, aber die  
Melodie ist zu hören.

Ab 15 Uhr dürfen die Kinder online gehen - eine der Hauptattraktionen.  
«Wir schalten das Modem bewusst erst am Nachmittag ein», erklärt  
Thulani Madondo. «Sonst würden morgens zu viele die Schule schwänzen.»  
Die meisten Kinder aus dem Jugendtreff kennen niemanden ausserhalb von  
Kliptown. Die mailen sich halt einfach gegenseitig. Andere tauschen  
sich auch mit Onlinefreunden in der Limpopo-Provinz aus, ganz im  
Norden Südafrikas. An eine dortige Schule wurden im Herbst ebenfalls  
100 OLPC-Computer gespendet.

Viele der Kinder wollen einmal so werden wie Neo Masilo. Der fröhliche  
35-Jährige mit der Narbe quer über die linke Wange ist oft die letzte  
Rettung: immer dann, wenn der Internetserver mal wieder streikt.  
Eigentlich ist Masilo Automechaniker. Vor zehn Jahren lieh ihm jedoch  
ein Kumpel einen PC aus. «Hab ihn nie mehr zurückgegeben», erzählt er  
und grinst.

Nächtelang sass er vor dem Computer, probierte alle Programme aus.  
Weil der PC häufig abstürzte, begann er sich für Wartung und Support  
zu interessieren. Mittlerweile ist er Netzwerkexperte und PC-Doktor.  
Neo hat das Modem wieder zum Laufen gekriegt. «Kann los gehen!», ruft  
er und zwinkert den Kindern zu: Bahn frei fürs Surfen!

«Bisher ist kein einziger Laptop abhanden gekommen»

OLPC-Gründer Negroponte träumte ursprünglich von 100 Millionen Laptops  
für arme Kinder. Aber vielen Regierungen in den Entwicklungsländern  
waren selbst die Billigcomputer zu teuer. Andere erklärten, sauberes  
Wasser und besser ausgebildete Lehrer seien viel wichtiger als  
tragbare Computer. Immerhin: 750 000 Stück sind mittlerweile in  
Lateinamerika, Asien, dem Mittleren Osten und Afrika verteilt.

«Bisher ist uns kein einziger Laptop abhanden gekommen», sagt  
Sozialarbeiter Madondo stolz. «Aber bei zehn Geräten ist leider der  
Bildschirm zersplittert», fügt er verlegen an. Die Laptops überleben  
zwar selbst einen Sturz auf den Boden, aber anfangs hätten einige  
Kinder die Notebooks durch die Gegend geschleudert, wenn sie abstürzten.

In der Bibliothek des Jugendtreffs - einige Holzregale, vollgestopft  
mit Märchenbüchern, Tier- und Seeräubergeschichten, Mathe-Büchern und  
Englisch-Kursen - haben sich ein paar Mädchen breit gemacht. Sie  
fläzen in den Sitzsäcken oder liegen bäuchlings auf dem Fussboden.  
Viele haben Bücher aufgeschlagen und tippen konzentriert in ihren  
Laptop.

«Sie chatten», flüstert der Bibliothekar, ein Mittzwanziger in einem T- 
Shirt mit der Aufschrift «Dont kill yourself - skill yourself!». Und  
in der Tat: Die Mädchen tauschen sich über ihre Lektüre aus; berichten  
ihren Freundinnen, was den Helden der Geschichten gerade widerfahren  
ist.Er habe den Kindern erklärt, dass sie hier leise sein müssen,  
flüstert der Bibliothekar. «Genau wie in einer richtigen Bibliothek.»

Später trommelt Thulani Madondo seine Schützlinge zusammen: «Laptops  
schliessen, Tische und Stühle zur Seite räumen!» Einige wollen erst  
nicht recht, müssen sich vom Bildschirm losreissen. Vor Einbruch der  
Dunkelheit schliesst der Jugendtreff. Es gibt keine  
Strassenbeleuchtung im Township, und einige Kinder müssen noch die  
gefährlichen Eisenbahngleise ohne Bahnschranken überqueren.  
Taschenlampen haben sie nicht.

Amanda, das zierliche Mädchen, das so gerne Techno hört, trägt ihr  
Notebook sorgfältig im Plastikbeutel verpackt nach Hause. Immer  
geradeaus, der staubigen Hauptstrasse entlang, vorbei an  
Wellblechverschlägen und Müllbergen. Heute Abend wird sie ihren 17  
Geschwistern, Nichten und Neffen mal wieder PC-Unterricht geben.


WoodWing
Publiziert am 12.04.2009


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